Weinkritik und Stilignoranz
Stilignoranz in der modernen Weinkritik
Einleitung
Eine Analyse der Vinous Top 100 Weine des Jahres
Die moderne Weinkritik ignoriert häufig vielversprechende neue Regionen oder nischenhafte Weinstile. Kritiker*innen, die sich auf traditionelle Regionen konzentrieren, bewerten oft anhand veralteter Maßstäbe wie Lagerfähigkeit und klassischen Geschmacksausprägungen. Dadurch werden moderne Weine, die einen neuen Ansatz oder eine breitere Vielfalt darstellen – etwa mit Fokus auf Nachhaltigkeit, niedrigeren Schwefelgehalten oder experimentellen Methoden – vernachlässigt. Diese Engstirnigkeit behindert die Entwicklung der Weinkritik und die Wahrnehmung der Verbraucher*innen, die zunehmend nach individuellen und authentischen Weinerlebnissen suchen.
Die Bewegung hin zu neuen Ansätzen
Es gibt eine aufkommende Bewegung von Winzer*innen, die versuchen, sich von konventionellen Methoden zu lösen und eine Vielfalt zu fördern, die den veränderten Verbraucheransprüchen entspricht. Die Fokussierung auf biologische Anbaupraktiken, geringeren Schwefeleinsatz oder gar den Verzicht auf chemische Dünger und Pestizide sind Elemente, die zunehmend geschätzt werden, jedoch von traditionellen Kritiker*innen nicht in gleichem Maße gewürdigt werden.
Beispiel: Pierre Overnoy aus dem Jura
Ein Beispiel hierfür ist der Winzer Pierre Overnoy aus dem Jura, der seit Jahrzehnten auf chemiefreien Anbau und minimalen Schwefeleinsatz setzt, dessen Weine jedoch lange von klassischen Kritiker*innen ignoriert wurden. Solche Weine, die authentisch und einzigartig sind, spiegeln oft ihre Herkunft und das Handwerk der Winzer*innen auf eine Weise wider, die sich von den standardisierten Weinen der großen Produzenten unterscheidet. Dennoch fallen diese Weine durch das Raster vieler Kritiken, weil sie nicht dem veralteten Idealbild entsprechen.
Trinkreife und die Präferenzen junger Konsument*innen
Ein weiterer Aspekt, der oft ignoriert wird, ist die Frage der Trinkreife. Während etablierte Weine, insbesondere aus renommierten Regionen, für ihre Lagerfähigkeit und ihr Entwicklungspotenzial gepriesen werden, sind viele moderne Weine darauf ausgelegt, jung getrunken zu werden. Sie bieten eine direkte, zugängliche Genussmöglichkeit, die gerade bei jüngeren Weintrinker*innen sehr gut ankommt, da diese oft nach unkomplizierten, leicht zugänglichen Weinen suchen, die zu ihrem aktiven Lebensstil passen. Zudem sind jüngere Konsument*innen stärker an Nachhaltigkeit und neuen, experimentellen Ansätzen interessiert, die traditionelle Weine oft nicht bieten.
Unmittelbare Genussfreude vs. traditionelle Bewertung
Diese Vorliebe für unmittelbare Genussfreude kollidiert jedoch oft mit dem traditionellen Bewertungsrahmen, der Weine bevorzugt, die erst nach Jahren der Lagerung ihr volles Potenzial entfalten. Moderne Kritiker*innen, die diesen Wechsel nicht anerkennen, laufen Gefahr, nicht mehr zeitgemäß zu sein und eine wachsende Schicht an Konsument*innen zu verlieren.
Neue Stile und Ansätze: Vielfalt feiern
Die Ignoranz gegenüber neuen Stilen und Ansätzen zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Weine beschrieben werden. Anstatt die Vielfalt und die experimentellen Ansätze zu feiern, die Winzer*innen weltweit verfolgen, wird oft Wert auf Homogenität und Konformität gelegt. Der Druck, Weine in vordefinierte Kategorien zu pressen, verstellt den Blick auf die Innovationen und Experimente, die derzeit die Weinwelt revolutionieren.
Beispiel: Amphorengärung bei Elisabetta Foradori
Ein Beispiel dafür ist der Einsatz von Amphoren zur Gärung, wie ihn Winzer*innen wie Elisabetta Foradori aus dem Trentino nutzen, um den Weinen eine besondere Textur und Tiefe zu verleihen.
Naturweine: Ein Konflikt zwischen Authentizität und Kritikermeinung
Die Naturweinszene ist ein weiteres Beispiel für diesen Konflikt: Viele Kritiker*innen betrachten Naturweine mit Skepsis und werfen ihnen eine mangelnde Konsistenz oder "Fehlerhaftigkeit" vor. Dabei geht es bei Naturweinen um Authentizität, um das Loslassen von Kontrolle zugunsten der Natur – ein Konzept, das zunehmend Anklang bei einer neuen Generation von Weinliebhaber*innen findet.
Schritte für eine moderne Weinkritik
Moderne Weinkritik muss lernen, sich den veränderten Verbraucheransprüchen zu öffnen und sich von traditionellen Denkweisen zu lösen.
Vorschläge zur Anpassung der Weinkritik
Kritiker*innen könnten beispielsweise häufiger jüngere Winzer*innen besuchen, die innovative Methoden anwenden, oder sich intensiver mit Naturweinen und biodynamischen Praktiken auseinandersetzen. Zudem sollten sie Verkostungen in neuen Kontexten – wie bei Veranstaltungen mit jüngeren Konsument*innen oder in Kombination mit moderner Küche – durchführen, um ein besseres Verständnis für die aktuellen Trends und Vorlieben zu gewinnen.
Fazit
Nur dann kann die Weinkritik die gesamte Bandbreite der heute verfügbaren Weine angemessen repräsentieren und ihre Relevanz in einer sich schnell wandelnden Weinwelt behalten.